01. Januar 2016

Wenn der Zahn der Zeit nagt

Ein ehemaliges Hotel in der Schweiz wurde auf neue Bedürfnisse hin umgebaut. Während der Festsaal im ersten Stock zum Großraumbüro umfunktioniert ­wurde, entstanden im zweiten Stock neue Wohnräume. Dabei mussten unter anderem Deckentragbalken und Stuckausbildungen aufwendig restauriert werden.

Das Gasthaus »Goldenes Kreuz« in ­Erlenbach am Zürichsee diente vielen Generationen als Speise-, ­Gemeinde-, Tanz- und Festsaal. Es war für lange Zeit der Mittelpunkt der kleinen Schweizer Gemeinde, der das gesellschaftliche Dorfleben in Schwung hielt. Als ab dem Jahr 2006 Pläne ­bekannt wurden, dass das Haus für eine neue Nutzung umgebaut werden sollte, fragten sich viele Bürger, ob sich ein Fit­ness-Studio, ein SB-Markt oder gar ein Elektronik-Discounter in diesem altehrwürdigen Gebäude breitmachen würde. Zum Glück waren die Sorgen unbegründet, da die Besitzerin Marlène Schreiner-Zimmerman, im zweiten Ober­geschoss lediglich Wohnraum schaffen wollte. Weiter war geplant, den his­torischen Saal als Grossraumbüro für das Handels­unternehmen ihres Gatten zu nutzen.

Ölfarbschichten als Hindernis
Der Einbau einer Wohnung oberhalb des Saales verlangte, dass die ­in­zwi­schen ­»betagten« Deckentrag­balken im Saal einer Verstärkung ­unterzogen wurden. So wurden von den Hohlkehlen und der Untersicht zunächst ­zirka 2500 Laufmeter entfernt. Unter dem Holz­balken war bereits die zirka 4 cm starke Eisenplatte montiert, die wiederum durch einen schlanken, aber stabilen Stahlpfeiler vom ­Boden her abgestützt wurde. Von den entfernten Stuckfragmenten - Engeln und ­Blumentöpfen sowie Eier- und Blatt­stäben - wurde von den am besten ­erhaltenen Stücken je eines zur Weiterverarbeitung aussortiert. Trotz sorgfäl­tiger Auswahl blieb den Handwerkern nichts anderes übrig, als die dick aufgetragenen Ölfarbschichten zu entfernen, um anschlie­ßend die stark ramponierten Reliefteile und Risse mit gelb ein­gefärbtem ­Modell­gips zu ergänzen und instand zu stellen.
Die Hohlkehle mit dem Engel war bearbeitet worden, um ­davon eine ­Silikon-­Negativform herzustellen. In ein V-förmiges Bett aus Brettern einge­fügt, ­wurde der Hohlkehle zuerst ein Schelllack-Anstrich verpasst. Darauf kam temporär eine zirka 1 cm dicke Lehmschicht. Zwölf Lehmzapfen ­ergaben die Aussparungen für die benötigten Einfüllstutzen. Darüber ­wurde eine 2,5 cm starke, armierte Schale aus Gips gefertigt.

Flaschenhals als Einfüllstutzen
Im Anschluss konnte die erhärtete Gipsschale abgehoben und die Lehmschicht entfernt werden. Wiederum wurde die Gipsschale auf die Hohlkehle gelegt. Den entstandenen zwölf Löchern dienten abgeschnittene PET-Flaschenhälse als Einfüllstutzen. Alle Randanschlüsse wurden mit Gips zugestrichen, um ein Auslaufen des flüssigen Silikonkaut­schuks zu verhindern. Zwei von der Decke her eingespannte Holzlatten ­fixierten die Gipsform, damit diese beim Eingießen nicht nach oben schwimmen konnte. Wie das Bild 7 zeigt, wurden die Trichter gefüllt. Fünf Liter Silikon wurden in dem neu entstandenen Hohlraum ­zwischen der Hohlkehle mit dem Engel und der Gipsschale eingegossen. Da die Fließmasse bei solch großen Mengen manchmal noch stundenlang nachsickert, dienten die PET-Trichter als ­kleines Reservoir.

Modellgips im Einsatz
Die fertige, gummiartige Negativform lag umgedreht auf der Gipsschale auf dem Arbeitstisch. Handwerkerin Petra Effinger konnte die Hohlkehlen mit dem Engel abgießen. Dazu verwendete sie Modellgips mit einer Glasvliesnetzein­lage. Der gleichen Behandlung wurden die Fragmente mit dem Blumentopf, den Blatt- und den Eierstäben unter­zogen. Die bereits abgegossenen Teile wurden zum Trocknen zwischengelagert. Parallel dazu begann die Montage. Die Hohlkehlen, oben an der Decke – an dem bereits fixierten Blattstab eingehängt – wurden mit Moltofill verklebt und angeschraubt. So wuchs die Hohlkehle Stück für Stück. Ein ebenfalls neu abgeformtes Medaillon bildete ­einen der Eckabschlüsse. Danach konnte das Restaurieren der origi­nalen Stuckausbildungen angegangen werden. Ein über­eifriger Maler hatte dort anstelle des langwierigen Ablaugens versucht, die Farbschichten mit ­einem Sandstrahl­gebläse im »Schnellgang« zu entfernen - was eine zerstörerische ­Wirkung zur Folge hatte. Nun war aufwendige Kleinarbeit vonnöten, um die beschädigten Gipsverzierungen und Profilkanten auszubessern und nachzuarbeiten.

Gegensatz zur Historie
Nach getaner Arbeit: Die rohen Holzbalken mit den Eisenplatten sind nun wieder kaschiert und das Gerüst ist ausgeräumt. Der historisch wertvolle Raum und ehemalige Festsaal hat jetzt eine neue ­Bestimmung. Welch ein ­Gegensatz zu früher: ­modernste High­tech-Geräte sind in eine geschichts­trächtige Umgebung eingebunden – der perfekte Rahmen, um in einer exklusiven Umgebung zu arbeiten und Kunden zu empfangen.

Robert Muhr,
Stuckateur und Restaurator

Abbildungen: 1, 3-8: Muhr; 2: Schreiner                                                                                Ausgabe: 7-8/2013