Höher, schneller, weiter!
- Erstellt: 15. August 2016

Unternehmer oder Politiker kennen nur eine Richtung: Wirtschaftswachstum. Es gilt als alternativlose Zauberformel auf viele Herausforderungen. Vergleichbar mit dem heiligen Gral. Letztendlich geht es aber nicht um höher, schneller und weiter, sondern um ein gutes Leben.
Wohlstand durch Wachstum. Dieses Denken prägt unser Meinungsbild. Seit Jahrzehnten gilt diese Formel als Allheilmittel für gesellschaftlichen oder privaten Fortschritt. Die vergangenen Jahre haben jedoch viele von uns ernüchtert. Unkontrolliert schnelle und hohe Wachstumsraten haben die Weichen für einen entfesselten Kapitalismus gestellt. In der Folge ging die Kaufkraft vieler Menschen zurück, obwohl das Bruttoinlandsprodukt preisbedingt stieg. Reich wurde eine kleine Minderheit. Die Ergebnisse der Finanzkrise vor wenigen Jahren sind noch in Erinnerung, als sich ungebremstes Wachstumsverhalten in einer Weltwirtschaftskrise entladen hat. Kurzum: weniger Wohlstand trotz Wachstum.
In begrenzten Systemen zerstört unbegrenztes Wachstum auf Dauer die Lebensgrundlagen. Warum das so ist, verdeutlicht unter anderem ein Blick ins 18. Jahrhundert, als Seefahrer die Osterinsel im Südostpazifik entdeckten. Sie sahen ein Bild der Verwüstung. Riesige Skulpturen waren zerstört und umgeworfen. Die letzten Einwohner führten ein erbärmliches Dasein. Wald gab es nicht mehr. Erosion machte sich breit. Tiere und Pflanzen verschwanden. Die Zivilisation der Osterinsel brach zusammen. Unter den Inselbewohnern war ein Wachstums- und Prestigewettbewerb ausgebrochen. Im Ansehen stieg, wer die größten und höchsten Kultfiguren zeigte. Wer keine derartigen Statuen präsentierte, wurde missachtet. Alle fühlten sich als Gefangene einer Konkurrenz-, Wachstums- und Wettbewerbsspirale. Die Zerstörung der Lebensgrundlage war die Folge.
Nutzungsverhalten ändert sich
Parallelen zu unserem Verhalten drängen sich auf. Die Erde, vergleichbar mit einer Insel, ist ebenfalls ein in sich ge-schlossenes System. Prestige-, Wachstums- und Wettbewerbskämpfe finden auch bei uns statt. »Besser leben« heißt für viele, immer mehr und das Neueste kaufen zu müssen. Konsumenten jagen von einem Neuprodukt zum anderen und die Hersteller ziehen nach. Ab einem bestimmten Punkt führt steigender Wohlstand jedoch zu verändertem Konsumverhalten.
Wer etwas auf sich hält, verändert dann seinen Lebensstil. Die Zahl der Kritiker wächst, die den Wettlauf nach noch mehr PS und ständig neuem Kram hinterfragen, weil Schnelllebigkeit und Flüchtigkeit überhandnehmen. Nicht »immer mehr«, sondern »immer besser«, heißt es jetzt. Und »Schöner« statt »mehr«. Hinzu kommt, dass es immer mehr Kunden gibt, die zu höheren Konsumausgaben gar nicht mehr fähig sind. Erste Ansätze zeigen sich beispielsweise im Teilen von Autos. Immer mehr achten beim Kauf auf die Nutzungsdauer höherwertiger Güter anstatt alles gleich wegzuwerfen.
Beispiel Seerosenteich
Problematisch wird es, wenn Quantität und Tempo des Wachstums überhandnehmen. Ein oft verwendetes Beispiel sind Seerosen in einem Teich mit einer Wachstumsrate von 100 Prozent: Täglich sprießt aus einem Rosenstängel ein neuer. Am Anfang ist das Wachstum gering. Wachstumstempo und Menge nehmen am vorletzten Tag stark zu. Die Hälfte des Teichs ist dann bedeckt. Einen Tag später ist der komplette Teich voll. Das Entscheidende in Wachstumsprozessen findet zum Schluss statt. Während an der Teichoberfläche die Schönheit der Seerosen das Bild bestimmt, spielen sich darunter dramatische Überlebenskämpfe ab. Kleinsttiere, Organismen und andere Pflanzen sterben. Ein guter Gärtner, sprich weitsichtiger Unternehmer, kontrolliert deshalb stets den Teich und schneidet einzelne Seerosen bewusst zurück.
Strategie »neues Standbein«
Parallelen zur Unternehmensführung drängen sich auf. Je größer ein Unternehmen wächst, desto kleiner wird das Zukunftspotenzial. Zumindest wenn ein Unternehmen schneller wächst, als die Nachfrage des Marktes. In der Gründungsphase geht es jedoch steil aufwärts. Jeder Verantwortliche spürt eine hohe Nachfrage und starkes Kunden- und Wachstumspotenzial. Irgendwann jedoch wachsen die Kosten des Betriebes, wenn der Höhepunkt der Nachfrage erreicht ist. Der Aufwand für die Neugewinnung nimmt zu.
Mittelständler und Handwerker versuchen oftmals, diese Entwicklung mit zusätzlichen Standbeinen auszugleichen. Ergänzende Dienstleistungsangebote werden aufgenommen. Aus dem Spezialisten wird zum Beispiel der Komplettanbieter. Hieraus hat sich im Übrigen die Strategie der Kernkompetenz abgeleitet, als Unternehmer spürten, dass das Kerngeschäft vernachlässigt wurde. Großunternehmungen verwirklichen ihre Wachstumsphilosophie heutzutage, indem Sie Wettbewerber übernehmen oder im Ausland aktiv werden. Irgendwann werden Konzerne so groß, dass diese schwerfällig werden und aufhören, qualitativ zu wachsen. Flexible, preisgünstige und schnelle Marktteilnehmer erobern dann den Markt. Viele Fusionen erreichen die Ziele nicht oder bringen nur dürftige Erfolge. Sie scheitern an ihrer Größe und Trägheit. Während viele Menschen, im übertragenen Sinne, auf einem Ostermarsch und Wachstumspfad sind, überdenken andere ihr Leben. Weg vom »schneller, weiter, höher« zu einer neuen Bescheidenheit. Im Zentrum steht die Erkenntnis, dass ein Festhalten am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts unseren Wohlstand, die Lebensqualität und den Fortschritt keineswegs sichert, sondern viele Krisen unserer Zeit gerade darin ihre Ursache haben.
F. Helfensteiner
Abbildungen: Helfensteiner Ausgabe: 12/2013